Gefälschte Diagnosen sind bei Deutschen Krankenkassen an der Tagesordnung und für Ärzte und Krankenkassen systembedingt von Vorteil – sagt der Chef von Deutschlands größter Krankenkasse.
Oha, da hat Jens Baas, Chef der Techniker Krankenkasse TK, der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mal ein aufschlussreiches Interview gegeben: Patienten werden hinterrücks auf dem Papier kränker gemacht, als sie eigentlich sind. Hintergrund: Je mehr und schlimmer deren Diagnosen, desto mehr Geld bekommen die Krankenkassen aus dem gesetzlichen Risikostrukturausgleich. Was für ein krankes System!
O-Ton Jens Baas in der F.A.S.:
Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.
Sowie:
Die Kassen bezahlen zum Beispiel Prämien von zehn Euro je Fall für Ärzte, wenn sie den Patienten auf dem Papier kränker machen.
Und die Patienten???
Bezeichnenderweise spricht Baas von „Schummeln“, „Manipulation“ und „Wettbewerb“. Mit keinem Wort werden die potentiellen Auswirkungen dieses meines Erachtens betrügerischen Verhaltens auf Patienten erwähnt: Denen kann nämlich ihr privater Versicherungsschutz um die Ohren fliegen – falls sie ihn wegen solcher Abrechnungsdiagnosen überhaupt bekommen.
Hier geht es nicht nur um Schummelei, um Kavaliersdelikte, oder einen günstigeren Beitragssatz. Ein Beispiel: Sie wollen eine Lebens- oder Berufsunfähigkeitsversicherung abschließen. Dafür müssen Sie die Gesundheitsfragen des Versicherers im Antrag korrekt ausfüllen. Wie wollen Sie das leisten, wenn Ärzte & Krankenkasse Sie hinter Ihrem Rücken „kranker“ machen, als Sie sind?
Stellen sich derlei Abrechnungsdiagnosen erst im Leistungsfall heraus, also wenn Sie eine BU-Rente beantragen, ist nicht nur die Rente, sondern der komplette Vertrag in akuter Gefahr. Wie soll ein Lebensversicherer auch herausfinden, ob eine aktenkundige Diagnose korrekt oder betrügerisch gefälscht ist?
Abrechnungsdiagnosen aus der Praxis
Was Herr Baas von der Techniker nun bestätigt, beobachten wir schon lange – und raten unseren Kunden daher bereits seit vielen Jahren, noch vor dem Abschluss beispielsweise einer Berufsunfähigkeitsversicherung, die eigene Gesundheitshistorie penibelst aufzuarbeiten.
Leider sieht nicht nur der Chef von Deutschlands größter Krankenkasse die potentiellen Probleme nicht, auch manche Ärzte haben wenig Verständnis – oder wenig Unrechtsbewusstsein.
Hier ein paar Beispiele unserer Kunden aus diesem Jahr:
Die Frage nach gespeicherten Diagnosen…:
Immerhin sehr ehrlich:
Retten, was zu retten ist – oder besonders dreist?
Wie soll da ein Patient noch seinem Arzt blind vertrauen? Von unseren Kunden berichtet inzwischen ungefähr jeder fünfte, der seine Arztakte überprüfte, über „manipulierte“ Diagnosen!
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Fazit: Nicht einfach, für niemanden!
Die Bestätigung des TK-Chefs der Auswüchse dieses kranken Systems trifft bestimmt wieder diejenigen am meisten, die sauber und im Kunden-/ Patienteninteresse handeln: Denn wer „sauber“ arbeitet, muss Versuchungen widerstehen, muss mehr Leistung erbringen, wird dennoch in aller Regel weniger verdienen, als jemand, der nur an seinen eigenen Vorteil denkt – aber gerät nun ebenfalls unter „Generalverdacht“. Das kommt mir aus unserer Branche soooo bekannt vor!
Natürlich dürfen wir die Schuld auch nicht denjenigen geben, die trotz eines gewissen persönlichen Risikos auf derlei Missstände hinweisen, oder sie bestätigen.
Es kann und darf nur nicht zugelassen werden, dass die Leidtragenden wieder einmal die ehrlichen Verbraucher / Kunden / Patienten sind!
Letzteres werden auch die privaten Lebens- und Krankenversicherer zu bedenken haben, sobald sich bei der Beantragung von Versicherungsschutz oder im Leistungsfall Diagnosen zeigen, die der Kunde nicht gekannt haben will: Spätestens nach dem Interview von Jens Baas muss die Korrektheit von Arztberichten oder Krankenkassenauskünften im gleichen Maße angezweifelt werden (können), wie es mancher Versicherer (so gern) bei den Angaben seiner Versicherten tut.
Nachtrag vom 11.11.2016:
Die AOK Rheinland / Hamburg akzeptiert eine 7 Mio EUR Strafe wegen manipulierter Abrechnungsdiagnosen, berichtet die FAZ. Die AOK habe „im Zusammenwirken mit den Kassenärztlichen Vereinigungen und ausdrücklicher Billigung durch die Aufsichtsbehörde auf die Vertragsärzte in Nordrhein und Hamburg hingewirkt, die Diagnosen bei der Behandlung von AOK-Versicherten nachträglich derart zu ergänzen, dass die Versicherten kränker werden“. Klasse „Aufsichtsbehörde“, oder?
Nachtrag vom 02.02.2017:
Im Dezember 2016 wurden in Berlin die Barmer Ersatzkrankenkasse und die Kassenärztliche Vereinigung von der Staatsaanwaltschaft durchsucht, meldete am 20.12.2016 das Online-Magazin apotheke-adhoc.de.
Die Berliner Koalition plant nun ein Gesetz gegen die Manipulation von Arzt-Diagnosen, meldete am 20.01.2017 der Deutschlandfunk und Medien wie die Norddeutschen Neuesten Nachrichten nnn aus dem Medienhaus Nord.
Nachtrag vom 04.11.2017:
Die oben erwähnte Gesetzesänderung wurde im Frühjar 2017 tatsächlich vorgenommen. Im Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz HHVG finden sich mehrere Änderungen des Fünften Sozialgesetzbuches. Unter anderem heißt es dort nun im § 71 Abs. 6:
„Verträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern dürfen keine Vorschläge in elektronischer oder maschinell verwertbarer Form für die Vergabe und Dokumentation von Diagnosen für den Vertragspartner beinhalten.“
Außerdem im § 73 b Abs. 5:
„Vereinbarungen über zusätzliche Vergütungen für Diagnosen können nicht Gegenstand der Verträge sein.“
Trotzdem gibt es noch immer gefälschte Diagnosen, so eine Studie der Techniker Krankenkasse.
Reaktionen:
10.10.2016:
Leserzuschrift nach dem Versand unseres Newsletters „ausgeBUddelt“ vom gleichen Tag:
12.10.2016:
Das Investment berichtet: Dreister Betrug an Patienten
13.10.2016:
Pfefferminzia berichtet: Gefälschte Diagnosen gefährden den Versicherungsschutz
Der Versicherungsbote berichtet: Tricksereien von Ärzten und Krankenkassen gefährden BU-Schutz
14.10.2016
Das Tagesbriefing: Thema des Tages
Procontra online: Wie Kassenbetrug den BU-Schutz gefährdet
17.10.2016
Die BILD-Zeitung titelt: Falsche Abrechnungsdiagnosen gefährden Versicherungsschutz
21.10.2016:
Kommentare zu diesem Beitrag
Hallo Herr Helberg, vielen Dank, dass Sie auf dieses wichtige Thema hinweisen! ♥ Nächste Woche frage ich bei meiner Kasse und den Ärzten an.
Schönen Dank für das Lob und viel Erfolg bei der Recherche, Maike88!
Auch wir durften die selbigen Erfahrungen jetzt wieder teilen. Diagnose aus dem Jahr 2002 wurde 2015 und 2016 wieder hervorgeholt.
Zumindest zeigte sich der Arzt kompromissbereit und schrieb ohne große Umstände ein Attest heraus, das es sich um ein „Versehen“ handelt.
Hallo Tobias, schönen Dank für die Rückmeldung – und Euren Blogbeitrag dazu -> https://www.finanzberatung-bierl.de/blog/artikel/abrechnungsfehler-des-arztes-in-der-patientenakte-zufall-oder-absicht/