Mitte Mai 2011 wurde bekannt, dass HMI, der Strukturvertrieb der damaligen Hamburg-Mannheimer Lebensversicherung, jetzt ERGO, im Jahr 2007 seine 100 TOP-Vertreter mit einer Sex-Party in der Budapester Gellert Therme ‚belohnt’ haben soll. Dem Charakter eines stark hierarchischen Strukturvertriebes entsprechend, soll durch farbige Armbänder klar geregelt gewesen sein, welche der käuflichen Damen nur zum Angucken, oder für Sexspiele aller Art für jedermann oder exklusiv dem Vorstand und den TOP 5 Vertretern zur Verfügung stehen sollte. ERGO hat zwischenzeitlich die Anwesenheit von einigen Prostituierten bestätigt (stand unter https://web.archive.org/web/20160529082029/https://www.pkv.de/service/broschueren/musterbedingungen/mb-bt-2009/ zur Verfügung), sowie Kosten für dieses Incentive von etwa 83.000 EUR von der Steuer abgesetzt. Seit Bekanntwerden wechseln sich Häme, blankes Entsetzen und Erschütterung in der Branche ab. Dass ERGO dieser Skandal gerade zu dem Zeitpunkt trift, in der man sich mit einer millionenschweren Imagekampagne als verbrauchernaher und -orientierter Versicherer darstellen will, trifft den Konzern ins Mark.
Sex sells ist eine Weisheit, die auch in der Versicherungsbranche gilt; genau wie die Erkenntnis eines Kollegen nach einer Versicherungsmesse: „Je kürzer die Röcke, desto schlechter die Produkte.“
Schon melden sich kritische Stimmen zu Wort, denen schon Versicherungen an sich als Übel erscheinen mögen und schlagen allerhand vor, was sich ändern müsste, damit sich solches nicht wiederholt. Gern wird dann auf Provisionen geschimpft und das Vergütungssystem der Versicherungswirtschaft an den Pranger gestellt. Der dumpfbacken-schmierige provisionsgeile Vermittler, der sein Gegenüber gern über den Tisch zieht, passt vielen eben gut in ihr Weltbild. Wenn er sich nun sogar durch derlei Handeln quasi Frei-Bumsen beim Versicherer erdient, ist das Feindbild nahezu perfekt.
Auf der Strecke zu bleiben drohen all diejenigen Versicherungsvertreter oder Versicherungsmakler, die ihren Beruf kompetent, engagiert und anständig ausüben.
Geht man davon aus, dass eine qualitativ hochwertige Tätigkeit eine entsprechende Aus- und Weiterbildung erfordert und ein auskömmliches Einkommen mit sich bringen muss – warum arbeiten Versicherer dann mit Vertrieben wie HMI, AWD, DVAG, OVB, WBK und wie sie alle heissen überhaupt zusammen?
Die übliche Funktions- und Arbeitsweise der Strukturvertriebe ist doch bekannt: Branchenfremde werden akquiriert, eher in Sachen Verkauf als Know How geschult („Fachwissen schadet doch nur im Verkauf“) und von ihren Vorgesetzten auf mehreren Ebenen in die Verwandtschaft und Bekanntschaft getrieben, um so besser Zugang zu nichts böses ahnenden Zeitgenossen zu erhalten. Sind dann alle deren Versicherungen gekündigt, irgendwie neu abgeschlossen, sonst keine Geschäfte mehr zu machen und wiederum neue ‚Empfehlungen’ abgefragt, zieht man zum nächsten. Von der erzielten Provision erhält der neu Angeworbene nur einen Bruchteil, den großen Anteil teilen sich sein „Vorgesetzter“, dessen „Vorgesetzter“, dessen „Vorgesetzter“ … usw. (Laut wikipedia waren das bei HMI in 2006: Reprässentant -> Leitender Repräsentant -> Hauptrepräsentant -> Chefrepräsentant -> Direktionspräsentant Stufe 5 -> Direktionspräsentant Stufe 6 -> Generalpräsentant, alle jeweils an der Provision der unteren Hierarchieebene beteiligt).
Handwerkliche Fehler und Fehlberatungen sind bei derlei Vorgehen nahezu vorprogrammiert, ein wirtschaftliches Überleben des neu Angeworbenen nur durch einen schnellen Aufstieg in der Hierarchie möglich. Und so wundert es nicht, dass die Fluktuation in Strukturvertrieben besonders hoch ist: Bei Fremden gibt es nun einmal keinen Vertrauensvorschuss und ein Mangel an Fachwissen fällt eher auf. Irgendwann hat also der neu angeworbene Strukki keine lohnenswerte Kundschaft mehr und muss die Segel streichen, oftmals mit Schulden aus Vertriebsvorschüssen, die „ins Verdienen“ gebracht werden sollten. Das alles kümmert aber den Strukturvertrieb nicht, sondern gehört geradezu zum Konzept, denn schon kann das ‚Spiel’ ja mit einem anderen neu Anzuwerbenden wiederum von vorn beginnen…
Selbst ohne Belohnungs- und Bestrafungssysteme, selbst ohne Incentives und Sexorgien sind Strukturvertriebe alles andere, als man sich unter verbrauchernaher Versicherungsvermittlung vorstellt. Im Gegenteil, viele hinterlassen bei Kunden wie ehemaligen Mitarbeitern verbrannte Erde.
Würde ein Versicherer also wirklich Kunden verstehen wollen, warum arbeitete er dann überhaupt mit Strukturvertrieben zusammen?
Wäre es nicht ein Leichtes, in dem Ende 2010 veröffentlichten Verhaltenskodex für den Vertrieb von Versicherungsprodukten des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) einen Punkt mit hineinzunehmen, dass man nicht mit mehr als beispielsweise 2-stufigen Vertriebsunternehmen zusammenarbeiten wird – und sich auch nicht finanziell an ihnen beteiligt oder sie gar selber gründet? Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieses GDV Kodex für den Versicherungsvertrieb waren jedoch schon damals geäußert worden. Vielleicht ist nun DIE Gelegenheit, das Thema ernsthafter anzugehen?
Kommentare zu diesem Beitrag
Die HMI und mit ihr ERGO bleiben in den Schlagzahlen: Bei Riesterrentenversicherungen sollen die Kosten zu niedrig deklariert worden sein und Kunden mit beitragsfreien Lebensversicherung sollen zur Kündigung dieser Verträge bei gleichzeitigem Neuabschluss von Unfallversicherungen mit Prämienrückgewähr ebenfalls bei Victoria / ERGO bewogen worden sein. Viele Journalisten schießen sich geradezu auf ERGO ein, aber manch Branchenteilnehmer fragt sich, was wohl bei anderen Versicherern und ihren Strukturvertrieben bei intensiver Recherche ans Tageslicht kommen würde?
Heute kann man dem Handelsblatt Folgendes entnehmen (http://www.handelsblatt.com/unternehmen/versicherungen/ergo-bekommt-noch-mehr-probleme/4369016.html)„Spontane Forderungen Einzelner, die zur Lösung des Problems eine Trennung vom Strukturvertrieb fordern, bewerten wir als unüberlegt und maßlos überzogen“, erklärten rund 100 Betriebsräte der Ergo Lebensversicherung Mitte Juni in Hannover in einer Resolution. „Es darf nicht zugelassen werden, dass wenige verantwortungslose Personen das Ansehen unserer Kolleginnen und Kollegen in den Dreck ziehen und sie und ihre Familien einer ungerechtfertigten und undifferenzierten Hetzkampagne ausgesetzt werden“, reagierten die Betriebsräte auf die Fehler innerhalb der Ergo-Gruppe.“ Mein Kommentar: Was aber, wenn es sich bei den ‚verantwortungslosen Personen‘ gerade um die Führungskräfte und TOP-Verkäufer handelt? Diejenigen also, die dem Rest als Vorbild dienen (sollten)?
Auch bei der Welt am Sonntag stellt man eine richtige Frage: „Müsste man nicht den Strukturvertrieb als solchen infrage stellen?“
Antwort von Dr. Torsten Oletzky (Vorstands-Vorsitzender der ERGO Versicherungsgruppe AG): „Alle großen Versicherungen arbeiten mit Strukturvertrieben. Man kann nicht alle Mitarbeiter vor die Tür setzen, nur weil sich einzelne falsch verhalten haben. Wir haben es nicht für geboten gehalten, mit der großen Keule zuzuschlagen. (…) Der Strukturvertrieb hat seine Berechtigung, weil er andere Kundenschichten erreicht als der Vertrieb über Agenturen. (…)“
Wer das Interview gern nachlesen möchte, hier der Link: http://www.welt.de/print/wams/wirtschaft/article13875789/Das-ging-nicht-spurlos-an-mir-vorbei.html