Ein aktuelles Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) enthält brisante Aussagen zur Grundfähigkeitsversicherung und Schwere-Krankheiten-Versicherung. Derlei Verträge knüpften nicht unmittelbar an eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit an. Daher gelten für sie nicht die besonderen Vorschriften des VVG, wie es bei der Berufsunfähigkeitsversicherung der Fall ist.
Während sich ein Teil der Versicherungsbranche darüber freuen mag, dass eine Verbraucherzentrale vor dem BGH gegen einen Versicherer verloren hat, werden wichtige Passagen im Urteil bisher nicht angemessen wahrgenommen.
Dabei sind sie für Lebensversicherer durchaus brisant.
Zur Vorgeschichte des BGH-Urteils
Eigentlich ging es bei dem BGH Urteil vom 11.12.2024 (Az IV ZR 498/21 PDF-Download) um etwas anderes: Die Verbraucherzentrale Hamburg (VZ) hatte die AXA Versicherung AG verklagt, weil diese im Jahr 2019 tausenden Kunden Verträge zur „Unfall-Kombirente“ gekündigt hatte.
Die „Unfall-Kombirente“ war eine auf einer Unfallrentenversicherung beruhende Absicherung mit Leistungen auch bei Eintritt einiger schwerer Krankheiten, dem Verlust von Grundfähigkeiten und Pflegebedürftigkeit.
Die Kündigung erhielten knapp 8.000 Kunden, die sich nicht auf den von der AXA angebotenen Wechsel in die wegen kürzerer Rentenzahlungen schlechtere und darüber hinaus teurere „Existenzschutzversicherung“ eingelassen hatten.
Die Verbraucherzentrale hatte damals argumentiert, der Versicherer habe die „Unfall-Kombirente“ quasi als Alternative zur Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) angepriesen. Eine BU dürfe ein Lebensversicherer aber nicht ordentlich kündigen. Daher müsse das auch für die „Unfall-Kombirente“ der AXA gelten – obwohl es sich dabei um eine Versicherung eines Sachversicherers handelte.
Landgericht weist Klage ab, Oberlandesgericht gibt VZ Hamburg Recht
Das Landgericht Köln wies im Jahr 2021 die Klage der Verbraucherschützer gegen die AXA ab, die VZ Hamburg ging in Berufung und das Oberlandesgericht Köln gab ihr noch im gleichen Jahr Recht.
Im damaligen Urteil des OLG Köln vom 17.12.2021 (Az 20 U 21/21 PDF-Download) heißt es:
Eine vergleichbare Interessenlage wie bei der Berufsunfähigkeitsversicherung, bei der nicht zu rechtfertigen wäre, wenn der Versicherer sich insbesondere bei altersbedingter Steigerung des Risikos vom Vertrage lösen dürfte, wird man bei der Unfall-Kombirente schwerlich verneinen können. Bei der Kombination der vier vorgesehenen Leistungsfälle und deren konkreten Ausgestaltung in den BB U-Kombirente sind Risiken der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sehr weitgehend abgedeckt. Überwiegend darin liegt ersichtlich der Zweck dieses Versicherungsprodukts, mit dem die Beklagte auch geworben hat.
Gegen dieses Urteil ging nun wieder die AXA vor dem BGH in Revision.
Das BGH-Urteil vom 11.12.2024 zur „Unfall-Kombirente“
Der BGH wies nun endgültig die Revision der Verbraucherzentrale Hamburg zurück und hob das Urteil des OLG Köln auf. Es steht nun also fest, dass seinerzeit die AXA die Verträge zur „Unfall-Kombirente“ kündigen durfte. Das Recht der Axa zur ordentlichen Kündigung verstoße weder gegen das Transparenzgebot, noch benachteilige es Versicherungsnehmer unangemessen.
Was macht das Urteil nun so brisant für die Grundfähigkeitsversicherung?
Der BGH begründet sein Urteil sehr ausführlich. So beruhe der Umstand, dass ein Lebensversicherer nicht ordentlich kündigen dürfe, auf seinem Recht nach § 163 und 164 VVG, einseitig Prämien und Versicherungsbedingungen ändern zu können (Randnummer 38).
Dies gelte wegen § 176 VVG auch für die Berufsunfähigkeitsversicherung und sei laut § 177 Abs. 1 (Randnummer 40) …
(…) auf Versicherungsverträge entsprechend anwendbar, bei denen der Versicherer für eine dauerhafte Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit eine Leistung verspricht.
Und weiter:
Dafür muss die Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit den Versicherungsfall unmittelbar auslösen (…).
Und schließlich:
Deshalb ist § 177 Abs. 1 VVG etwa auf die Grundfähigkeitsversicherung oder die Schwere-Krankheiten-Versicherung unanwendbar.
Eine Grundfähigkeitsversicherung ist keine Arbeitskraftabsicherung – und nun?
Laut BGH sind die im Versicherungsvertragsgesetz enthaltenen Regelungen zur Berufsunfähigkeitsversicherung (§§ 172 bis 177) nicht auf die Grundfähigkeitsversicherung, Dread-Disease-Policen und Multifunktionsrenten wie die „Unfall-Kombirente“ anwendbar.
In diesen Paragrafen befinden sich aber nicht nur Vorschriften zur Befristung von Leistungs-Anerkenntnissen und zur Leistungseinstellung.
Auch die Anwendung der gesamten §§ 150 bis 170 VVG – also der Regelungen zur Lebensversicherung – ist betroffen. Denn auf diese Paragrafen bezieht sich § 176 VVG.
Fazit Grundfähigkeitsversicherung zur Arbeitskraftabsicherung
Die VVG-Regelungen zur Lebensversicherung sind laut BGH auf Grundfähigkeitsversicherungen und Dread-Disease-Policen unanwendbar. Was gilt denn dann für sie?
Sollte man nach dem BGH-Urteil Grundfähigkeitsversicherungen pauschal noch als Arbeitskraftabsicherung bewerben?
Ich finde, das sollte man noch nie.
Wenn ich meine Arbeitskraft wegen der Folgen einer Krankheit oder eines Unfalls verliere und allein das keine Leistung aus einer für diesen Fall abgeschlossenen Versicherung auslöst, handelt es sich nicht um eine Arbeitskraftabsicherung, Punkt. Diese glasklare Einstellung kommunizieren wir seit Jahren, z.B. auf unserer Seite zu BU-Alternativen. Oder in Medien wie der FAZ.
Es reicht eben nicht aus, dass ein Produkt „Risiken der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit sehr weitgehend abgedeckt„.
Der BGH stellt zur „Unfall-Kombirente“ fest, was man zumindest auf die meisten Tarife der Grundfähigkeitsversicherung und Dread-Disease-Police anwenden kann (Randnummer 40):
Keiner der vier (…) Leistungsfälle knüpft unmittelbar an eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit des Versicherten an.
Schön, dass der BGH sich jetzt – wenn auch etwas juristisch verklausuliert – deutlich geäußert hat.
Es wird spannend, wie sich das Urteil in Bezug auf Tarife und Versicherungsbedingungen auswirken wird.
Nachtrag vom 21.01.2025: Die „Pfefferminzia“ berichtet
Nachtrag vom 22.01.2025: Der versicherungstip titelt: „VVG-Regeln zu LV gelten bei Grundfähigkeits- und Schwere-Krankheiten-Policen nicht“
Nachtrag vom 30.01.2025: Der versicherungstip titelt: „Brisanz und Aufklärungsbedarf für die Versicherungsmakler-Beratungspraxis“
Der versicherungstip zitiert Rechtsanwalt Tobias Strübing von der Kanzlei Wirth in Berlin mit den Worten:
Schwierig wird es nun leider für den Vermittler. Denn in der täglichen Praxis sollte der Vermittler natürlich die Bedingungen ansehen und den Kunden darauf hinweisen, dass abweichend von einer BU diese Versicherung jederzeit durch den Versicherer gekündigt werden könnte.
Hier geht es zum öffentlich lesbaren Artikel des vt: BGH-Urteil: Brisanz und Aufklärungsbedarf für die Versicherungsmakler-Beratungspraxis
Nachtrag vom 06.02.2025: Auch „Das Investment“ und „Cash-Online“ berichten
Weitere Medien berichten über die von uns angestoßene Diskussion. So viel ist klar: Die Auswirkungen des Urteils sind nicht eindeutig. „Juristen und Versicherer widersprechen sich“, wie „Das Investment“ schreibt.
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